Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V.

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Studienmöglichkeit für polnische Studenten in der Bundesrepublik Deutschland

– eine bemerkenswerte Initiative zur Förderung von Studienmöglichkeiten

erschienen in: aktuelle Ostinformationen Nr. 1/2 – 1985

Alle Anzeichen deuten darauf hin: Polen ist – neudeutsch formuliert – »out«. Die Welle der modischen Polen-Begeisterung ist verebbt. Die Berichte in den Medien werden weniger und kürzer, die Beteiligung an Tagungen geht zurück. Der August 1980 ist immerhin schon beinahe ein halbes Jahrzehnt her. Das Wort »Polen« kommt allenfalls noch in der innenpolitischen Diskussion vor. Einen Blick über den Zaun, hinüber zu unseren östlichen Nachbarn und ihren Problemen, wirft man nur noch bei spektakulären Ereignissen.

Ein Kontrapunkt: Wenn ich in das Postfach der »Gemeinschaft zur Förderung von Studienaufenthalten polnischer Studenten in der Bundesrepublik Deutschland e.V.« (GFPS) schaue, bin ich geneigt, genau das Gegenteil zu schreiben. Dort stapelt sich die Post. Es sind meist Briefe von Menschen, die sich gegen Gleichgültigkeit und Ignoranz wenden wollen; die einen persönlichen Beitrag dazu leisten möchten, ein kleines Stück Normalität im deutsch-polnischen Verhältnis entstehen zu lassen; die auch, um mit Karl Dedecius zu sprechen, »das Defizit an positiver Kenntnis unter Deutschen und Polen aufarbeiten« wollen. Seit es die GFPS gibt, also seit dem Februar 1984, steigt die Zahl der Menschen, die mit uns das ungewöhnliche Projekt einer privaten Stipendienorganisation zwischen Ost und West tragen wollen, stetig an. Vierzehn Monate nach der Gründung hat der kleine Verein rund 100 Mitglieder und 200 weitere Spender und Förderer. Sie alle ermöglichen uns, schon in diesem Jahr 20 Stipendien zu Studienaufenthalten an junge Polen zu vergeben.

Woher kommt diese in der gegenwärtigen deutsch-polnischen Situation antizyklische Entwicklung? Hat sich das früher schicke Interesse an Polen zu etwas Bleibendem verfestigt? Haben vielleicht die Paketaktionen zu der Erkenntnis geführt, daß Politik selbst im schwierigen Ost-West-Verhältnis nicht nur von Politikern gemacht wird, sondern auch »von unten« kommen kann, daß durch persönlichen. Einsatz etwas bewegt werden kann?

Letzte Antworten sind schwierig. Einfacher ist es, wenn ich für meine eigene Person herauszufinden versuche, warum ich eine menschliche und politische Herausforderung darin sehe, kleine Löcher in den Eisernen Vorhang zu bohren.

Bei meinem ersten Aufenthalt in Polen im Sommer 1983 saß ich einige Tage mit rund zehn anderen Studenten in einem Landhaus einer Gruppe polnischer Studenten gegenüber. Wir redeten miteinander, und zwar sehr ausdauernd, über alles, was uns gemeinsam politisch bewegte. Und da gab es schon einiges: das Wettrüsten, die damals anstehende Entscheidung über die Raketenstationierung, die Friedensbewegung, die Menschenrechte, die Zukunft Europas. Über jedes Thema stritten wir erbittert. Fundamentale Meinungsunterschiede ließen das Gespräch immer schwieriger werden. Nach zwei Tagen saßen wir uns entsetzt gegenüber. Unsere polnischen Gesprächspartner waren tief enttäuscht, warfen uns Unmoral vor. Auf unserer Seite war das Entsetzen nicht geringer; wir warfen ihnen Verantwortungslosigkeit vor. Am Schluß stand dann die erste (und nicht folgenlose) gemeinsame traurige Erkenntnis: die Teilung Europas funktioniert nicht nur geographisch und politisch, sondern auch in unseren Köpfen: die gefährliche Sprachlosigkeit zweier waffenstarrender Blöcke, die aufgezwungene Kontaktsperre, kann tatsächlich Unverständnis und Gesprächsunfähigkeit zwischen den Menschen erzeugen, kann Vorurteile zementieren helfen. Und noch etwas: wir waren uns sicher, daß eben diese erzwungene Funkstille für die Schwierigkeiten innerhalb unserer Generation verantwortlich ist – mehr als die historische Hypothek.

Wir haben nicht aufgegeben, haben uns wieder getroffen. Aus vielen der entsetzten Gesprächspartner sind inzwischen Freunde geworden. Sehr langsam sind aus Diskussionen, die wie Glaubenskriege geführt wurden, Gespräche geworden, geprägt von mehr Toleranz und mehr Akzeptanz. Wir glauben, daß wir damit viel gewonnen haben, wenn auch manche grundlegenden Meinungsverschiedenheiten nicht ausgeräumt sind und sein können.

Wir haben voneinander gelernt. Von mir selbst muß ich. beispielsweise sagen, daß ich erst durch den persönlichen Kontakt wirklich verstanden habe, was es für Polen meines Alters heißt, sich der westlichen Kulturtradition zuzurechnen, welchen Verlust an gemeinsamer Kultur dieser Schnitt quer durch Europa für sie bedeutet. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Prüfungsgespräch (es ist schon einige Jahre her): Nach der Kulturgrenze zwischen West- und Osteuropa wurde gefragt. Damals wußte ich nur einige auswendig gelernte Sätze über orthodoxe und katholische Religionen zu sagen. Wie anders wäre das heute!

Viele unserer Erfahrungen (meine Bewertung der Erlebnisse deckt sich in vielen Punkten mit derjenigen der anderen Teilnehmer) aus den Begegnungen sind in die Programmkonzeption der GFPS eingeflossen. Außerdem stellten wir fest, daß andere Menschen schon früher ähnliche Erlebnisse mit Polen hatten. Wahrscheinlich spürt jeder, der einmal nach Polen fährt oder sich hier länger mit Menschen aus Polen beschäftigt, wie schwierig und gleichzeitig notwendig der Dialog ist. Vielleicht ist es gerade die Übertragbarkeit unserer Erfahrungen, die das Ergebnis, nämlich die GFPS, auf Interesse stoßen lassen; und zwar jenseits der modischen Polenbegeisterung.

Nachdem wir selbst erfahren hatten, wie wichtig Gespräch und Begegnung sind, mußten wir feststellen, daß den ganz zweifellos vorhandenen polnischen Wünschen nach Kontakten hier in der Bundesrepublik kaum entsprochen wird. Was im Verhältnis der Bundesrepublik zu anderen europäischen Ländern zur Normalität gehört, ist im deutsch-polnischen Verhältnis die Ausnahme. Es existieren nur wenige Austauschprogramme; sie haben einen sehr begrenzten Rahmen. Beim Katholischen Akademischen Austauschdienst bestätigte man uns, daß »auf diesem Gebiet erst wenig geschieht«. Der Deutsche Akademische Austauschdienst mußte mit Bedauern feststellen, daß sein kleines Studienprogramm für polnische Germanisten, obwohl schon vor Jahren gegründet, erst jetzt langsam anläuft. Eigeninitiative war und ist also gefragt, wollen wir der Sprachlosigkeit der Menschen im geteilten Europa nicht ohnmächtig gegenüber stehen. Daß diese Initiative nicht aus Polen kommen kann, versteht sich beinahe von selbst: weil die östliche Währung im Wesen nicht konvertibel ist, kann ein junger Pole einen längeren Studienaufenthalt im Westen nicht selbst finanzieren.

Bei unseren ersten Bemühungen konnten wir uns auf die bereits jahrelangen Erfahrungen des spiritus rector und spiritus movens der Freiburger Gruppe, eines Jurastudenten, der drei Monate in Polen studiert hat, stützen. Durch seine Zähigkeit und seinen persönlichen Einsatz war schon einigen polnischen Studenten ein kleines Stipendium in der Bundesrepublik ermöglicht worden. So wußten wir, daß Paß- und Visumsschwierigkeiten in Polen im Gegensatz zu anderen Ostblockländern in der Regel kein unüberwindbares Hindernis darstellen. Guter Wille, genügend »Interessenten« und auch die formalen Möglichkeiten waren also vorhanden; uns fehlte schlicht das Geld.

Zunächst starteten wir eine spontane Spendenaktion unter unseren Kommilitonen. So fanden sich 30 Studenten, die monatlich 20 Mark bezahlten, um einem Lubliner Philosophiestudenten ein halbes Jahr lang zu ermöglichen, in Freiburg Materialien zu seiner Doktorarbeit über Martin Heidegger zu sammeln. Schnell stellte sich jedoch heraus, daß diese Methode, gewissermaßen von der Hand in den Mund, in der Zukunft untragbar sein würde. So entstand langsam, an vielen Abenden am Küchentisch ausgebrütet und später mit unseren akademischen Lehrern besprochen die Konzeption für ein auf Jahre angelegtes Stipendienprogramm. Im Februar 1984 schließlich gründeten wir, zunächst ein kleines Häuflein von 20 Freiburger Studenten und Doktoranden, einen Verein, um dem Programm einen organisatorischen Rahmen zu geben.

Durch viele Gespräche gelang es uns, mehrere hundert Menschen aus der gesamten Bundesrepublik für unsere Idee zu interessieren. Sie alle halfen uns: durch regelmäßige Mitgliedsbeiträge, durch Spenden (aufgrund des gemeinnützigen Status des Vereins steuerlich absetzbar), durch organisatorische Unterstützung, durch Hilfe bei der Zimmersuche, durch persönliche Einladungen an Stipendiaten. Andere Menschen stellen ihre künstlerischen Fähigkeiten in den Dienst der GFPS. So ging die Pianistin Edith Picht-Axenfeld, Professorin an der Freiburger Musikhochschule, mit einem Chopin-Programm auf Benefiz-Tournee durch sechs bundesdeutsche Städte. Ein Kreis von Professoren aus beiden Ländern unterstützt und berät uns. Zu diesem Kreis gehören so namhafte Persönlichkeiten wie der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde (Freiburg), die Historiker Klaus Zernack (Gießen), Heinrich-August Winkler (Freiburg) und Rudolf von Thadden (Göttingen), der Theologe Bernhard Casper (Freiburg) und in Polen beispielsweise die auch in der Bundesrepublik bekannten Professoren Jósef Tuschner (Krakau), Jacek Woźniakowski (Krakau) und Władysław Bartoszewski (Warschau).

Um diese polnischen Hochschullehrer gruppiert sich ein kleiner Kreis weiterer unabhängiger Wissenschaftler, die in verschiedenen polnischen Hochschulstädten in einem offenen und einheitlichen Bewerbungsverfahren die Auswahl unter den Bewerbern treffen. Die Kandidaten, Studenten höherer Semester und Doktoranden, haben die Wahl zwischen zwei Programmen. Das eine Programm, ein Studienstipendium, umfaßt eine fünfmonatige Förderung (einen längeren Aufenthalt erlaubt unser schmaler Geldbeutel noch nicht). Die Auswahlkriterien für dieses Programm orientieren sich an den Zielen der GFPS, nämlich der Förderung von Studium und Wissenschaft einerseits sowie von Begegnung und Verständigung andererseits. So wird neben guten Deutschkenntnissen wissenschaftliche Qualifikation verlangt. Erwünscht sind konkrete Studienprojekte, die den Aufenthalt an einer bundesdeutschen Hochschule mit ihren Arbeitsmöglichkeiten und Denktraditionen förderlich erscheinen lassen. So haben sich unsere ersten Stipendiaten beispielsweise mit den Philosophen Hegel und Heidegger, mit dem Freiburger Schriftsteller Reinhold Schneider oder mit dem in Polen unverständlich erscheinenden Phänomen der »Grünen« in der Bundesrepublik beschäftigt.

Ebenso wichtig für die Vergabe eines Semesterstipendiums soll sein, daß sich die Stipendiaten als Teil der Bemühung verstehen, den Eisernen Vorhang durch persönliche Kontakte und gegenseitiges Verstehen durchlässiger zu machen. Wir erwarten als Programmteilnehmer offene, neugierige, kritikfähige und kontaktfreudige Menschen, die auch ein Stück ihrer Heimat mit sich bringen und hier vorstellen können. Sie sollen in der Bundesrepublik und nach ihrer Rückkehr in Polen Multiplikatoren im Sinne der Verständigung sein.

Besonders bedeutsam, ja ausschlaggebend ist dieses letzte Kriterium für die Vergabe des zweiten Studientyps, nämlich der Sommerkursförderung. Unsere Stipendiaten besuchen die Sommerkurse für »Deutsche Sprache und Kultur«, die während der Sommersemesterferien an zahlreichen Hochschulen angeboten werden. Wir wissen aus den Erfahrungsberichten, daß auch solche kurzzeitigen Aufenthalte für polnische Studenten wertvoll sind. Sie nehmen diese Möglichkeit mit einem großen Hunger nach Information und Gespräch wahr.

Studienorte für die Stipendiaten sind nur solche Städte, in denen Freunde der GFPS wohnen. Denn wir verstehen uns nicht nur als Geldgeber, sondern – der Vereinsname hat programmatischen Charakter – als »Gemeinschaft«. Mitglieder und Freunde versuchen, die Stipendiaten am Studienort zu betreuen und in ihren Lebenskreis einzubeziehen. Sie laden die polnischen Studenten ein: zum Essen oder Diskutieren, zum Musikhören oder Tanzen, zum Wandern oder Skifahren, zu Weihnachten oder Ostern.

Auch die Gestaltung von deutsch-polnischen Begegnungen, Hütten-Wochenenden oder Seminaren gehört zur Suche nach der lebendigen geistigen Auseinandersetzung mit Polen und somit zur Tätigkeit der GFPS. Dies alles können jedoch nur Angebote sein. GFPS kann nur der Rahmen eines Webstuhls sein, der es uns selbst und anderen ermöglicht, Fäden einzuwirken und so ein immer größer werden des Gewebe zu schaffen.

GFPS ist schnell über Freiburg hinausgewachsen. Schon in diesem Semester studieren außer in Freiburg Stipendiaten in Tübingen, Regensburg, München, Mainz und Bonn. Freunde, Förderer, Mitglieder kümmern sich dort um die Stipendiaten und gehen oft mit Phantasie daran, neue »Geldquellen« zu erschließen. Die Überzeugung, daß kurzfristige materielle Hilfe durch langfristige ideelle Hilfe durch einen auf Gegenseitigkeit beruhenden geistigen Austausch ergänzt werden muß, teilen immer mehr einzelne Menschen mit uns; jedoch tragen wir sie auch an Gruppen, Firmen, Organsationen heran, die in der Lage sind, eine »Patenschaft« für einen Stipendiaten zu übernehmen.

GFPS ist ein Angebot, einen kleinen Beitrag zu leisten, damit die großen Politikerworte von der Verständigung keine leeren Worthülsen bleiben.

Thomas Kleine-Brockhoff