Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V.

GFPS e. V. > Programm > Archiv > 2004 > Grenzfall Belarus

Grenzfall Belarus

Studienfahrt nach Weißrußland im Mai 2004

Treffen mit dem weißrussischen Verein Sfera in Minsk vom 01.05. – 09.05.2004

Lingua incognita – das Belarussische

Ich weiß nicht mehr, wer mir mal die Anekdote von einem weißrussischen Bauern erzählt hat, der auf die Frage, mit wem er denn Weißrussisch spreche, geantwortet haben soll: »Mit meinen Kühen!« Ich weiß aber sicher, dass ich die von GFPS, Lahoda und Sfera organisierte Minskreise in der Erwartung angetreten habe, kaum ein Wort Weißrussisch zu hören.

  • 10 Für den Musiker Viktor Zoi

    10 Für den Musiker Viktor Zoi

  • 11 Holocaust-Mahnmal in Minsk

    11 Holocaust-Mahnmal in Minsk

  • 12 Kurz vor der Abreise

    12 Kurz vor der Abreise

  • 14 In der Bahn

    14 In der Bahn

  • 2 Gruppenbild

    2 Gruppenbild

  • 3 Dekoration zum Tag des Sieges

    3 Dekoration zum Tag des Sieges

  • 8 In Kurapaty

    8 In Kurapaty

  • 9 Aufruf zur

    9 Aufruf zur "geistigen Erneuerung"

 

»Minsk ist sprachlich russifiziert«, schallt es einem apodiktisch aus den einschlägigen sprachwissenschaftlichen Aufsätzen entgegen. Von den deutschen Bewerbern für die Reise wurden wegen der Teilnahme polnischer und weißrussischer Studenten Polnisch- oder Russischkenntnisse erwartet. Und doch schrieb ich in meine Bewerbung hinein, dass ich vor allem neugierig auf die weißrussische Sprache sei. Bin zwar Slawist im Endstadium, habe auch einige Lehrveranstaltungen besucht, in denen immer wieder – meist am Rande – auch das Weißrussische angesprochen wurde; ich habe diese Sprache aber noch nie gehört. Auch in Orša nicht, wo ich einmal auf der Rückfahrt von St. Petersburg einen planmäßigen sechsstündigen Aufenthalt hatte und die Gelegenheit nutzte, eine Buchhandlung aufzusuchen und ein weißrussischsprachiges Buch zu kaufen. Beim Durchblättern des Buches fiel mir auf, dass bei der Erschaffung des Weißrussischen mit den Lauten [a], [dz] und [ts] nicht gegeizt worden war. Kann man ein bisschen Polnisch und Russisch oder Ukrainisch und Russisch oder Ukrainisch und Polnisch oder Ukrainisch und Russisch und Polnisch, dann versteht man in gedruckten Sätzen sogar öfter mal den Sinn des Gesagten. Diese Sprache wollte ich mal hören; vielleicht würde es ja doch irgendwen in Minsk geben, der sich ein Herz nehmen und die linguistische Sensationsgier eines Deutschen stillen würde.

Als wir dann in Weißrussland angekommen waren und unsere Gastgeber von Sfera kennenlernten, war ich fasziniert: Die sprachen ja alle ihre Sprache! Und fanden es nicht so gut, wenn man die Begriffe »Weißrussland« und »Weißrussisch« benutzte. Und so kam es, dass ich mir in der einen Woche, die ich in Minsk war, den selbstverständlichen Gebrauch der zunächst fremd klingenden Begriffe »Belarus« und »belarussisch« angewöhnte. Wobei man im Grunde genommen »belarussisch« ja sogar mit nur einem »s« schreiben sollte, um den Bezug zur Rus´, nicht aber zur russischen Nation herzustellen. Leider sind die Ausspracheregeln des Deutschen dem belarussischen Patriotismus nicht wohlgesonnen und machen aus einem einfachen »s« in der Orthographie ein stimmhaftes [z] in der Aussprache.

So interessant in Minsk die Vorträge der verschiedenen NGOs auch waren – Highlight war für mich als Slavistikstudenten der Vortrag von … von der Gesellschaft für belarussische Sprache. Die Gesellschaft für belarussische Sprache (GBS) ist 1989 gegründet worden; von der KP in Belarus war sie anfangs als Auffangbecken für patriotische Intellektuelle gedacht, um diese von der »nationalistischen« Partei Belarussische Nationale Front (BNF) fernzuhalten. Tatsächlich aber entwickelte sich zwischen GBS und BNF ein kooperatives Verhältnis; als NGOs noch ihre Kandidaten aufstellen konnten, schafften 17 Vertreter der GBS den Sprung ins belarussische Parlament.

Dem Regime Alaksjandr Lukašenkas mit seiner kulturellen Orientierung an (Sowjet-)Russland war die Organisation ein Dorn im Auge, und so war sie seit Machtantritt des amtierenden Präsidenten unterschiedlichen Schikanen ausgesetzt. Lukašenka bereitete der kurzen Phase der Belarussifizierung von 1991-1994 ein Ende; ihm wird der Ausspruch zugeschrieben, dass man große Gedanken nur auf Russisch oder Englisch ausdrücken könne. Durch ein Referendum von 1995 wurde Russisch in Belarus zur zweiten Amtssprache. Folge war, dass Mitarbeiter der staatlichen Behörden die belarussische Sprache nicht beherrschen müssen. Gegen die faktische Dominanz des Russischen hat es Proteste gegeben. Während auf dem Land viele Belarussen dialektales Belarussisch sprechen, gilt die Verwendung der belarussischen Sprache bei der städtischen Intelligenz als ein Zeichen für die Zugehörigkeit zum oppositionellen Lager. Die GBS betrachtet die Politisierung der Sprachenfrage mit gemischten Gefühlen, da die politische Aufladung des Themas unter dem Lukašenka-Regime die Situation des Belarussischen eher erschwert. Im Übrigen sprechen nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung von Belarus hochsprachliches Belarussisch; in den Städten ist die sogenannte »Trasjanka« verbreitet, eine Mischung aus Belarussisch und Russisch. Auch der Staatspräsident verwendet mitunter die Trasjanka.

An den staatlichen Universitäten in Belarus gibt es zwar das Fach belarussische Philologie; eine belarussischsprachige Hochschule existiert jedoch nicht. Um das Belarussische als Wissenschaftssprache zu etablieren, setzt sich die GBS für Lehrveranstaltungen in belarussischer Sprache ein. Diese gibt es nur vereinzelt; es gehört Mut dazu, an den staatlichen Universitäten für belarussischsprachige Unterrichtsgruppen einzutreten. Auch weigern sich viele Dozenten, auf Belarussisch zu lehren. Ein weiteres Problem ist der Mangel an Lehrbüchern in belarussischer Sprache. Die GBS hofft, dass in den nächsten Jahren mehr Lehrveranstaltungen auf Englisch abgehalten werden; dadurch könne das dominante Russische etwas zurückgedrängt und das Belarussische gestärkt werden.

Internationale Beachtung erfuhr 2003 der Fall des Nationalen Belarussischen Lizeums in Minsk. Dieses wurde von den staatlichen Behörden geschlossen, der Unterricht findet aber – gewissermaßen privat – weiterhin statt; der Schulabschluss wird im Ausland anerkannt, und paradoxerweise können die Absolventen des »illegalen« Lizeums an den Zugangsprüfungen zu belarussischen Hochschulen teilnehmen.

In den Buchhandlungen in Belarus machen belarussischsprachige Bücher nur einen kleinen Teil des Angebots aus. Der Buchdruck in Belarus ist billig, und so lassen viele russische Verlage ihre Bücher hier drucken. Diese sind dann wiederum auch auf dem belarussischen Markt zugänglich.

Ein Wörterbuch »Deutsch-Belarussisch/Belarussisch-Deutsch« habe ich in Minsk übrigens vergeblich gesucht; ich fand nur ein recht dünnes deutsch-belarussisch-russisches Wörterbuch. Vielleicht werde ich mal versuchen, eine E-Mail auf Belarussisch zu schreiben, unter Zuhilfenahme der Grammatik, die ich mir ebenfalls in Minsk gekauft habe. In Deutschland gibt es noch den »Kauderwelsch«-Band »Weißrussisch«, der die deutsche Leserschaft allerdings nicht mit der kyrillischen Schrift überfordern will. Der wahre Belarussisch-Fan findet das nicht schön und wendet sich entsetzt ab.

Mark Brüggemann


Wer, wann, wo und was?

Ein "Steckbrief" des Projekts "Grenzfall Belarus"

„Grenzfall Belarus” war ein belarussisch-deutsch-polnisches Seminar der Vereine GFPS-Polska, GFPS e. V., Lahoda e. V. und Sfera, das vom 3. bis 8. Mai 2004 in Minsk stattfand. Am Projekt nahmen 22 Studierende aus Belarus, Polen und Deutschland teil, die sich in verschiedenen Vereinen und Organisationen gesellschaftlich engagieren. Das Projekt stellte eine Mischung aus Studienfahrt, Seminar und Workshops dar. Wir beschäftigten uns mit der aktuellen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation in Belarus, wobei der Fokus auf dem Alltag von jungen Belarussen sowie auf der Arbeit von NGOs und Oppositionellen lag. Zunächst ging es für die polnischen und deutschen Studierenden um die Vermittlung von Grundwissen über Belarus. Dieses erwarben sie vor der Reise durch selbstständige Lektüre, bei den Vorbereitungstreffen in Frankfurt (Oder) bzw. Warschau und natürlich in Minsk während unserer Treffen. Unsere Gesprächspartner hatten wir so ausgewählt, dass wir mit Vertretern unterschiedlichster Bereiche zusammentrafen, um so ein breites Spektrum von aktiven Belarussen kennen zu lernen (Bildung, Menschenrechte, Jugend, Medien, NGOs, Politik). Die Teilnehmer brachten sich in die Gespräche ein und erarbeiteten gemeinsam in Gruppen, welche Bedeutung die Medien, die Erinnerungskultur und Zivilgesellschaft heute in Belarus spielen. Ein weiteres Ziel von „Grenzfall Belarus” war es, belarussische, deutsche und polnische Studierende untereinander zu vernetzen und so Impulse für Folgeprojekte zu geben. Die beteiligten Vereine kooperierten bei dem Projekt erstmals, für die GFPS war „Grenzfall Belarus” darüber hinaus ein Pilotprojekt, mit dem die Vereinsaktivitäten auf Belarus ausgedehnt wurden.

Uta Volgmann