Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V.

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Ansprache anlässlich des Jubiläums von GFPS

(Gemeinschaft für Wissenschaft und Kultur in Mittel- und Osteuropa)

Görlitz, 19. September 2009


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich stelle mir vor, dass das heutige dreifache (!) Jubiläum – nämlich des 25-jährigen Bestehens von GFPS, der 15-jährigen Aktivität von GFPS-Polen und des zehnten „Geburtstages” von GFPS-Tschechien – unter dem Zeichen der Begegnung stehen soll. Und diesem Begriff möchte ich – passend zu der heutigen Gelegenheit – meinen Vortrag widmen.

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung” schreibt der Philosoph Martin Buber in seinem „Dialogischen Prinzip”. Umso mehr wundert es mich gelegentlich, wie selten dieses Wort im alltäglichen Sprachgebrauch vorkommt. Und wenn er schon benutzt wird, dann oft ohne das Bewusstsein seines wahren, tieferen Sinns.

Vielleicht aber sollte ich davon nicht überrascht sein, denn unsere moderne Kultur des Wegschauens überlässt wenig Platz für wahre Begegnungen. Wegschauen heißt dabei nicht unbedingt buchstäblich den Kopf abzuwenden. Es heißt in erster Linie, sich mit den Angelegenheiten der Anderen nicht beschäftigen zu wollen. Sich keine Mühe geben, Andere zu verstehen. Fremde Sichtweisen kennen zu lernen. Gedanken und Meinungen auszutauschen.

„Am leichtesten trifft man Leute, denen man aus dem Weg gehen will”, sagte einst der deutsche Schriftsteller Lothar Schmidt. Und tatsächlich: eine Begegnung im eigentlichen Sinne ist oft nicht einfach. Sie verlangt nach Engagement. Dem Kennenlernen muss ein Interesse vorausgehen. Und konstruktiver Meinungsaustausch findet nicht statt ohne zumindest minimale intellektuelle Leistung und ohne ein wenig Verständnis- bzw. Akzeptanzbereitschaft für „fremde” Perspektiven, Sitten oder Anschauungen. Das Wort „fremd” setze ich dabei bewusst in Anführungszeichen, denn es ist letztendlich genau das Ziel und der Weg zum Erfolg jeder Begegnung: das, was vorerst „fremd” und unbekannt, vielleicht sogar furchteinflößend war, zum Vertrauten und Bekannten zu machen.

Dabei muss es nicht unbedingt heißen, Begegnungen sollen immer zum Konsensus führen und schon gar nicht dazu, den Anderen von eigenem Standpunkt zu überzeugen. Begegnung schafft zunächst eine Basis, einen Raum, eine Gelegenheit für gegenseitige Präsentation. Für Diskussion, oder besser: für den Dialog. Begegnung ist also das Gespräch und es ist – sehr wichtig – das Zuhören. Der Ausgang dieses Dialogs kann selbstverständlich höchst unterschiedlich sein und muss nicht immer gleich in gemeinsamer Übereinstimmung enden. Es gibt aber nichts schlimmeres, als Begegnungen zu vermeiden und im sturen, gefährlichen wenn auch für viele leider bequemen Unwissen von- und übereinander zu verharren.

Eine der prägendsten Erfahrungen meines Lebens war der Aufenthalt von 1983 bis 1990 als Gastprofessor an drei bayerischen Universitäten: in München, Eichstätt und Augsburg. Zum einen war diese Erfahrung für mich so bedeutend, weil ich in dieser Periode unzählige persönliche, private und berufliche Kontakte geknüpft habe, die mein gesamtes späteres Leben bestimmen sollten und bis zum heutigen Tag bestimmen.

Genauso wichtig war aber noch etwas anderes: zum ersten Mal bekam ich tagtäglich mit deutschen Studenten zu tun, mit hunderten von jungen Menschen, die im Schnitt nach 1960 geboren wurden. Also mit der Generation der Enkel der aktiven Teilnehmer oder Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges. Es hat sich herausgestellt, was für mich zunächst überraschend war, dass diese jungen Leute, intelligente, schon gewissermaßen ausgebildete und an der Welt interessierte Studenten der Politikwissenschaft, nur sehr fragmentarisches oder gar keines Wissen über Polen und überhaupt über die Situation auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs besaßen. Woher sollten sie auch? Für die überwältigende Mehrheit von ihnen war ich der erste Pole, der erste Mensch „von drüben”, den sie im Leben getroffen haben. Ich war wie ein „fremdes Wesen” aus einer abgeschnittenen Welt, die auf Europas Karte zwar so nahe lag, in Wirklichkeit aber genauso schwer erreichbar und genauso unverständlich war, wie eine exotische Zivilisation auf der anderen Seite der Erdkugel.

Nach und nach, haben wir jedoch gemeinsame Sprache gefunden. Das Interesse meiner Seminarteilnehmer wurde soweit erweckt, dass ich die Vorlesungen gelegentlich aufgrund der Überzahl der Kandidaten in zwei parallelen Gruppen halten musste. Viele der Studenten haben unter meiner Betreuung Diplomarbeiten verfasst, manche von ihnen sogar über Polen. Ich erwähne oft eine lustige Anekdote aus dieser Zeit, von welcher unsere gegenseitige „Entdeckung” und Annäherung illustriert wird: einmal stellte ich im Hörsaal fest, die Polen hätten im Grunde keine Vorurteile gegen die Deutschen im allgemeinen, höchstens nur gegen die Preußen. Daraufhin antworteten meine bayerischen Studenten: „Wir auch”. Die letzte vorsichtige Zurückhaltung zwischen uns war damit verschwunden. Heute, im vereinten Europa mögen derartige Begegnungen der wahren Art selbstverständlich, ja alltäglich scheinen. Damals waren solche ersten Kontakte bahn- und eisbrechend.

Aber es benötigt oft keinen Eisernen Vorhang und keine Berliner Mauer um Begegnungen zu vereiteln. Oft reichen andere Mauern oder einfach mangelnder Wille, um Menschen, die nebeneinander leben, in der Praxis auseinander zu halten. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten Polen und Juden jahrhundertelang auf demselben Boden. Die jüdische Gemeinschaft zeichnete sich – neben facettenreicher Kultur – durch spezifische Traditionsverbundenheit und lehnte assimilatorische Tendenzen weitgehend ab, denn sie betrachtete ihr abgesondertes Dasein als einen übergeordneten Wert, dem sie konsequenterweise die Treue hielt. Eine nicht gerade kleine Gruppe orthodoxer Juden befürwortete sogar eine völlige Isolation von der nicht jüdischen Umgebung. Auch die Polen, die im alltäglichen Leben vielfältige Kontakte mit den Juden hatten, beeilten sich im allgemeinen nicht gerade, diese Barriere der Fremdheit zu überwinden. Jede der beiden Seiten neigte dazu, sich gegenüber der anderen überlegen zu fühlen.

Diese Situation – ein Mangel an wirklichen Begegnungen und am gegenseitigen Verständniswillen – war natürlich willkommener Boden für Xenophobie und Vorurteile. Die schlimmsten von ihnen entstehen nämlich dann, wenn Angehörige verschiedener Gruppen wenig oder gar keinen wirklichen Kontakt miteinander haben: Kontakt im Sinne eines wahren Dialogs. Auch historische Ressentiments werden dort konserviert – und zwar oft über Generationen hinweg – wo kein historischer Dialog zustande kommt. Wo keine Versöhnungs- oder sei es nur Annäherungsversuche unternommen werden.

Unlängst wurde ich eingeladen, in der Katholischen Akademie Hamburg bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem ehemaligen Europaparlamentspräsidenten Prof. Hans-Gert Pöttering über europäische Vergangenheit und Zukunft zu diskutieren. Meine Äußerungen waren bei dieser Gelegenheit ebenfalls gewisser für die zwischenmenschlichen und vor allem für die internationalen (in diesem Fall deutsch – polnischen) Beziehungen sehr fundamentalen Form von Begegnung gewidmet: der Begegnung historischer Perspektiven. Dass Menschen aufgrund unterschiedlich erlebter Erfahrungen eigene Geschichtsauffassungen ausarbeiten, ist durchaus verständlich. Das geschieht freilich auch im Fall solcher Traumen wie z. B. Krieg oder Totalitarismus. Die gesamte Nachkriegsgeschichte Europas ist von solchem mentalen Äquivalent des Eisernen Vorhangs durchtrennt. Das Problem ist jedoch nicht das Doppelgedächtnis selbst, sondern dass es oft zu wenig unternommen wird, verschiedene geschichtliche Perspektiven einander zugänglich und füreinander verständlich zu machen. Um vielleicht dabei auch voneinander zu lernen. Denn Geschichte hat ebenfalls ein Potenzial, um zur Begegnungs- und zur Dialogplattform zu werden.

In zahlreichen Fällen wären Konflikte durch konsequent realisierte Begegnungen leicht zu überwinden. Doch Begegnungen – wie ich bereits angedeutet habe, setzen guten Willen voraus. Sie brauchen Engagement und Gesprächsbereitschaft. Manchmal brauchen sie auch den Mut, um den symbolischen Brückenschlag gegen die vorherrschende Meinung und gegen den allgemeinen Misswillen zu wagen. Wie viel leichter fällt es oft, bei eingefahrenen Voreingenommenheiten und vertrauten Feindbildern zu bleiben, als diese zu überwinden versuchen. Zugespitzt ausgedrückt: Begegnungen scheitern oft an purer geistiger und moralischer Faulheit.

Darüber hinaus kommt es bekanntlich häufig vor, dass Begegnungen aus ideologischen Gründen verhindert werden. Denn durch Verhinderung von Begegnungen lassen sich künstliche Feindbilder konstruieren oder bereits existierende Intoleranzen verstärken. Und wer vor einem imaginären Feind Angst hat, ist anfälliger für populistisches Gedankengut. Kurz: er lässt sich leichter manipulieren und somit beherrschen. Nicht ohne Grund bedienen sich totalitäre Diktaturen zweier erprobten Herrschaftsmittel: der Zensur und den Restriktionen bei Reisefreiheit. Denn Begegnung mit freiem Wort ist wie Begegnung mit freier Meinung, ob persönlich oder mittels Schrift bzw. sonstiger Informationsübertragung. Sie erweitert den Horizont. Sie klärt auf. Und aufgeklärte Bürger waren von jeher der wahre Feind der Diktatoren.


Sehr geehrte Damen und Herren,

nach diesem ziemlich langen theoretischen Teil mit doch einigen praktischen Beispielen zur Rolle und zur Bedeutung von menschlichen Begegnungen, möchte ich zum wirklichen Anlass des heutigen Abends zurückkehren. Die Gesellschaft für Studentischen Austausch ist eine Einrichtung, die mittlerweile seit einem viertel Jahrhundert konsequent eine Aufgabe realisiert. Diese Aufgabe besteht in Förderung des Austausches von jungen Menschen aus Deutschland, Polen und Tschechien. Auf den Punkt gebracht, macht sie also nichts anderes und nichts minderes, als Begegnungen zu ermöglichen. Für seine Schützlinge eröffnet sie die Tür zur sprachlichen, künstlerischen, akademischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung. Diese auf privatem Ehrgeiz und auf Leidenschaft errichtete Organisation ist ein wahrer Träger der europäischen Werte.

GFPS hat auf eigene Weise dazu beigetragen, dass Europa die schwierigen Probezeiten überdauert hat. Es hat unzähligen Stipendiaten mit geistiger und materieller Unterstützung beigestanden und ist auch mitverantwortlich für das gemeinsame Europa von heute.

Die Mauern sind mittlerweile gefallen, die Grenzen wurden geöffnet. Wir leben gemeinsam in einem Europa, in dem Begegnungen zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Wo eine gesamte Generation der heute Achtzehnjährigen aufgewachsen ist und gerade das reife Erwachsenenalter erreicht ohne das dunkle europäische Geschichtskapitel anhand eigener Erfahrungen zu kennen, manchmal ohne es einmal zu verstehen. Das wäre übrigens auch Grund über spezifische Art von Begegnungen zu sprechen: über Begegnungen der Generationen – wie meine heutige mit Ihnen –, was aber ein Thema für andere Veranstaltung und für andere Gelegenheit ist.

Doch auch in diesem neuen, demokratischen und freien Europa von heute, hat die Gesellschaft für Studentischen Austausch die Aufgabe keineswegs verloren. Im Gegenteil: das heutige Europa stellt uns vor besonders dringende Verpflichtung den von ihm gesicherten und angebotenen Rahmen von Freiheit entsprechend zum gemeinsamen Wohl zu nutzen.

Sehr geehrte Damen und Herren, Gäste des heutigen Jubiläums,

meine heutige Ansprache möchte ich mit den Worten von Johann Wolfgang von Goethe abschließen. Mit Worten, die – wie es mir scheint – ein gutes und passendes Motto dieser Veranstaltung darstellen: „Vermeide niemand, der dir begegnet. Du findest leicht einen, dem du hilfst und einen, der dir helfen kann”.

Erlauben Sie mir noch, dass ich Ihnen aus Anlass des heutigen – wie erwähnt dreifachen – Jubiläums herzlich gratuliere und mich gleichzeitig für Ihr Engagement für das Zusammenwachsen des friedlichen Europa bedanke. Und uns allen – jungen und alten – wünsche ich, dass wir keine Angst vor Begegnungen haben: vor Begegnungen zwischen Menschen, Meinungen, Kulturen und Völkern. Vor Offenheit und Akzeptanz. Es stimmt: wahre Begegnungen sind manchmal anstrengend. Sie sind meistens mit einer Dosis von persönlichem Engagement und oft mit Kompromissbereitschaft verbunden. Doch letztendlich ist jede Begegnung ein Gewinn.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Władysław Bartoszewski