Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V.

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1. Trinationales Stipendiatenseminar in Radvanice

Müllsackrodeln – Schon mal versucht?

Auf einem schwach beleuchteten Hügel irgendwo in den mittleren Sudeten und dazu noch kurz vor Weihnachten geht ein Gerangel los. »Wo sind die Worki-Verteiler?« Gemeint sind damit die glücklichen Personen, die zuerst eine der begehrten Müllsackrollen abbekommen haben. Für die nächsten paar Minuten haben sie es also in der Hand, wer sich als erster auf einem Quadratmeter dunkelblauen Plastiks den Berg hinunterstürzen darf.

Rodeln auf trinational quasi – und tatsächlich ein Bild für die Götter! In einem Wahnsinnstempo, halb liegend, halb sitzend, sieht man etwa 40 junge Erwachsene aus Polen, Tschechien und Deutschland den Berg hinabflitzen. Und das nicht gerade mit geringer Lautstärke. Aber nur gut, dass wir dort hoch oben auf dem Rodelhügel recht abgelegen sind, so dass wir uns am Ende des ersten vollen Seminartags nach einer Menge anregender Referate nach Herzenslust austoben können. Das war bestimmt eines der »inoffiziellen« Highlights im Verlauf des ersten (!) gemeinsamen, und somit trinationalen, Seminar von GFPS e.V., GFPS Polska und Janua!

Alles Pfannkuchen – oder was?

Ein anderes Highlight hatten die Teilnehmer schon am Morgen erlebt. Soweit man es denn pünktlich zum Frühstück schaffte, wartete ein – nun ja – nicht ganz alltäglicher Essensteller – auf die Hungrigen: drei leckere Berliner (oder auch Krapfen bzw. Pfannkuchen) plus Banane. Während sich die einen denn noch fragten, ob sie wohl zu spät aufgestanden seien und dies schon die Kaffeepause sei, bissen die anderen beherzt in die tschechischen Pączki, um gestärkt in die erste Referatsrunde zu starten. Zum Glück blieb ein derart ausgefallenes Frühstück die Ausnahme, »süß« dominierte hingegen auch weiterhin die Kaffeepausen.

Die Stipendiatenreferate

Da sich die Referentenzahl durch die Anwesenheit aller deutschen, polnischen und tschechischen Stipendiaten im Vergleich zu vorhergehenden Seminaren nun mit einem Schlag mindestens verdoppelt hatte, wurden die Vorträge in zeitgleichen Themenblöcken vorgetragen. Dies bedeutete allerdings natürlich auch, dass man sich zwischen zwei Referatsgruppen zu entscheiden hatte, was manchmal durchaus nicht leicht fiel. Kurz nach dem Frühstück ging es also in den ersten deutsch/polnischen Referentengruppen um Themen wie die ersten Schritte in Polen, unterschiedliche nationale Gesten und Mimiken, aber auch um die Qualität der Sprachprüfungen für Ausländer an deutschen Hochschulen. Wie man schon merkt, sammelten sich allein schon in dieser Gruppe die unterschiedlichsten Themen. Dies war sicherlich ein wichtiger Aspekt dieses Seminars, denn durch die völlig unterschiedlichen Studienrichtungen der Stipendiaten hatten sich auch die Zuhörer auf ein sehr breit gefächertes Spektrum an Vorträgen einzustellen.

Eine besondere Herausforderung in dieser Hinsicht stellte sicherlich das Referat von Łukasz Biały dar, ein Medizinstudent und angehender Arzt, der mit seinem Vortrag über die Spezifika von Eiweißen längst verschollene Schulbiologiekenntnisse einiger Zuhörer weckte. Aber zurück zur chronologischen Reihenfolge: zeitgleich zu ersterwähnter Gruppe konnten sich politik- oder wirtschaftswissenschaftlich Interessierte einen Stock tiefer über (1.) die Konsolidierung des polnischen Bankwesens, (2.) über die Rolle Polens in der internationalen Klimapolitik und (3.) über das Völkerrecht, insbesondere im Hinblick auf den Irakkrieg weiterbilden.

Insgesamt alles Themen, mit denen sich man sich ohne Probleme einige Semester beschäftigen kann – aber um die erste Kaffeepause nicht in die Mittagszeit fallen zu lassen, lenkten die Moderatoren der Vortragsblöcke die Referate und die anschließende Diskussion in die vorgesehenen zeitlichen Bahnen, so dass sich alle Teilnehmer nach der ersten Runde verdient bei Kaffee und Kuchen stärken konnten.

Weiter ging es ausnahmsweise in der gesamten Gruppe mit einem Thema, welches die deutsch-polnischen Beziehungen während des letzten Jahres eingehend prägte und auch auf unserem Seminar einen besonderen Programmpunkt darstellen sollte. So stellte die Stipendiatin Dorothee Marth die unterschiedlichen Positionen zum Zentrum gegen Vertreibungen noch einmal heraus und bildete eine gute Grundlage für die gemeinsame Diskussion am nächsten Abend. Um Minderheiten ging es auch in dem letzten Vortrag vor dem Mittagsessen – allerdings handelte es sich nicht um deutsch/polnisches Terrain, sondern um die deutsche Minderheit in Kasachstan. Der Nachmittag wurde eindeutig von den Kulturwissenschaften dominiert. Wiederum aufgeteilt in zwei Blöcke, bekamen die Zuhörer eine »polnische« und eine »deutsche« Darstellung des Phänomens »Kulturschock« präsentiert. Außerdem erfuhren die Teilnehmer, dass ein und derselbe Begriff »Kulturwissenschaft(en)« auf den beiden Seiten der Oder nicht unbedingt die selben Studienfächer beinhalten muss. Konkrete sprachliche Probleme wurden dann auch in der anderen Gruppe diskutiert, wobei es einerseits um die unterschiedlichen Anglizismen im Deutschen und andererseits um den Umgang mit der weiblichen Form für Berufsbezeichnungen usw. ging. Mit einem interessanten Teil der deutschen Geschichte und deren Aufarbeitung hat sich dagegen Malwina Grochowska beschäftigt und präsentierte ihre Ergebnisse zu den unterschiedlichen Pressemeldungen nach dem Tod von Leni Riefenstahl.

Zu einem schönen lyrischen Ausklang der Referatsrunden verhalf uns dann die deutsche Stipendiatin Uljana Wolf mit ihren Gedichten, von denen einige sogar mit polnischer Übersetzung vorgetragen wurden. Zudem stellte sie die neue polnische Szene der jungen Literaten vor. Am Ende dieses Tages voller neuer und anregender Ansichten war am Abend das Bedürfnis groß, sich frohgelaunt in die Schneeberge zu stürzen und Theorie einmal Theorie sein zu lassen.

Märchen aus Stein

Nach so viel abendlichem Sport fing der nächste Tag ungleich ruhiger an. Auf in die Felsenstadt Adršpach! Dort wo der Sandsteinfels nicht nur irgendein Fels ist, sondern sich mit ein bisschen Phantasie und den freundlichen Winks unseres Bergführers nach und nach zu einer ganzen Dorfgeschichte aus vergangenen Zeiten zusammenfügte. »Und dort, Fritz, was siehst du dort?« sprach er und zeigte auf einige Felsengebilde. »Ähm, einen riesigen Stein …?« Nein, das war schon mal ganz falsch! Entweder hatte dort, an genau der Stelle, der Bürgermeister mal einen über den Durst getrunken oder aber Rübezahl hat sich dort verheiratet. So oder ähnlich muss es früher gewesen sein in dem märchenhaften steinernen Wald, der sich uns mitten im Dezember in seiner ganzen winterlichen Pracht zeigte.

Nach diesem wunderlichen Spaziergang, währenddessen einige Teilnehmer sogar für kurze Zeit ihre Namen lassen mussten, um als »Rosa«, »Hilde« oder »Ernst« in die sudetische Geschichte miteingeflochten zu werden, konnten wir bei einem schönen warmen grzane wino noch mal kurz tief durchatmen.

Mittelalter und Europäische Union

Am Nachmittag widmeten wir uns wieder den Stipendiatenvorträgen und diesmal wurde es zunächst einmal historisch: die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Befestigungen von Freiburg und Jelenia Góra standen zur Debatte. Von diesen architektonischen Grundfesten wurde es dann ganz schnell wieder politisch und hochaktuell, denn es stand die Diskussion um die europäischen Grundpfeiler der Verfassung an – und natürlich wurde das Veto Polens, die nur ein paar Tage vorher die Nachrichten beherrschte, heiß diskutiert.

Ein weiteres umstrittenes Thema, das Zentrum gegen Vertreibungen, stand etwas später zur allgemeinen Diskussion. Nach dem lebendigen Vortrag von Wolfgang Schubert, unserem »Zeitzeugen« zum Thema, entwickelten sich vielschichtige Debatten. In verschiedenen AGs versuchten wir daraufhin, dieses gemeinsame deutsche, polnische, tschechische oder etwa europäische Problem genauer unter die Lupe zu nehmen. Dass die Diskussion sowohl für die deutsch/polnischen Beziehungen als auch für jeden einzelnen von uns noch nicht abgeschlossen sein kann, das zeigte zumindest an diesem Abend der Ruf nach dem Abendessen, der unseren Sitzungen ein vorläufiges Ende bereitete.

Danach war zunächst kurz »Länderzeit« angesagt und der polnische und der deutsche GFPS-Vorstand sammelten je ihre Schäfchen zur Kritik- und Fragestunde. Wie zufrieden sind die Stipendiaten mit der Arbeit der GFPS? Welche Anregungen haben sie für die Zukunft? Da das Programm erst zu später Stunde endete, fanden einige Teilnehmer schon recht schnell den Weg ins Bett, um für den Abreisetag fit zu sein. Anderen konnte die späte Stunde jedoch nichts anhaben und so schallten frohgelaunt (fast) bis zum Morgengrauen die Kuckucksuhren der amerikanischen Tante und Bruder Jakob in verschiedenen Versionen durch die Flure unserer Unterkunft in Radvanice.

Dzię-ku-jemy

Noch ein paar warme Worte zum Schluss: für die schöne und herzliche Atmosphäre waren sicherlich die Teilnehmer selber verantwortlich; den Rahmen für einen reibungslosen Ablauf (angefangen von der Anfahrtslogistik bis zur Party-Organisation) und für ein vielfältiges Programm hat allerdings mit viel Herz und Verstand unser Organisationsteam – allen voran Kasia Homan zusammen mit Zdenka Konecna, Monika Książek und Katrin Becker – gestaltet. Ihnen allen im Nachhinein sei noch einmal ein herzliches Dankeschön gesagt! Dziękujemy bardzo!

Corinna Altenburg