Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa (GFPS) e. V.

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Ein ungewöhnlicher Studienaufenthalt in Polen

Auszüge aus einem Gespräch mit Georg Ziegler

Auszüge aus einem Interview mit der polnischen Monatszeitschrift »Więź«,Warschau, Heft 9/89

Frage: Wie kamst Du zu Deinem Interesse an Polen, warum hast Du Dich für ein Auslandsstudium in Polen entschieden und nicht z.B. in Frankreich oder den USA, wie dies viele deutsche Studenten tun? Wie kamst Du gerade an die Katholische Universität Lublin?

Antwort: Bei uns in Deutschland gibt es so eine Tradition, daß man ein Studienjahr im Ausland verbringt. Ein solches Jahr muß nicht unbedingt etwas mit dem Fachstudium zu tun haben, es hat einen allgemeineren Charakter, es dient der Horizonterweiterung … und so wollte ich an die Georgetown-University nach Amerika gehen, ich bewarb mich um ein Fulbright-Stipendium, was aber leider nicht klappte. Daher begab ich mich zum Akademischen Auslandsamt an der Universität Freiburg (wo ich studierte) und nahm dort sämtliche Broschüren mit, in denen von Auslandsstudium die Rede war, um nach Alternativen zu suchen. Darunter war auch ein »Studienführer Osteuropa« des DAAD. Dies erstaunte mich, da ich nicht gedacht hätte, daß Studenten aus dem Westen im sog. Ostblock studieren können. Mein Erstaunen wuchs noch mehr, als ich beim Durchblättern plötzlich etwas von einer Katholischen Universität Lublin las. In meinem damaligen Bild bestand dieser Teil Europa aus kommunistischen Ländern, wo eine Katholische Universität nicht ins Bild passte. Ich wollte also einmal hinter die Kulissen schauen.

Frage: Als wir uns im Herbst 1981 kennenlernten sprachst Du schon ganz gut polnisch. Wo hast Du diese Sprache erlernt?

Antwort: Mein Entschluß, nach Polen zu gehen, kam ziemlich überraschend, ja bedeutete für manche meiner Freunde und meine Familie einen Schock, da ich mich doch vorher mit diesem Land überhaupt nicht beschäftigt hatte. Als ich für den Auslandsstudienaufenthalt in Polen entschied, konnte ich noch kein einziges Wort Polnisch. Mein Polnisch-Lernen begann in der Sommerschule für polnische Sprache und Kultur 1980 an der Kath. Universität Lublin (KUL). Am 12. Juli 1980 kam ich in Lublin an, genau zu dem Zeitpunkt, wo in Lublin die ersten Streiks ausbrachen, der Lubliner Juli, auf den dann der Danziger August (Streiks in Danzig, Entstehung der Gewerkschaft Solidarität) folgte. Das war Zufall. Ich hatte Glück. Denn ich traf ein Polen an, das sich zu öffnen begann, das zeigte, was es wollte, wohin es strebte, wo die Sehnsüchte und Träume der Gesellschaft offen zutage traten, die Vorstellungen über die eigenen Rechte. In dieser Zeit also begann ich den Sprachkurs – doch schon nach drei Wochen, dies muß ich gestehen, lud mich jemand zu einer Fußwallfahrt nach Tschenstochau ein – 320 Kilometer. Ich nahm die Einladung an, denn ich wollte doch Polen kennenlernen, und nicht unbedingt nur in der Schule sitzen. Selbst der Schuldirektor räumte ein, daß dies eine einmalige Gelegenheit sei und ich als einziger Ausländer sicherlich dabei eine Menge Polnisch lernen würde – es handelte sich um die erste regionale Wallfahrt von Lublin nach Tschenstochau, an der sich 1500 Menschen beteiligten. Das erste, was ich lernte, war das Vater Unser und Gegrüßet Seist Du Maria.

Ich lernte Polen kennen, in dem ich durch Polen ging… durch die Felder, den Erdboden dieses Landes. Dabei lernte ich polnische Wörter, wie z.B. Pferdefuhrwerk, Holz, Wasser, Feld, Scheune – Scheune deshalb, weil wir meistens in Scheunen übernachteten. Ich fühlte mich überall sehr herzlich aufgenommen. Auf der Wallfahrt wurde ich allseits akzeptiert, ja man kann sogar sagen: adoptiert. Wenn ich heute zurückschaue, kann ich nur sagen: das war ein phantastischer Einstieg in Polen, den ich nur jedem empfehlen kann, der dieses Land wirklich kennenlernen möchte.

Frage: Waren diese ersten Erfahrungen, besonders die Teilnahme an der Wallfahrt, für Dich als in Freiburg Gebildeten – der Stadt Husserls und Heideggers, einem der Zentren der deutschen Theologie – waren diese Begegnungen mit dem polnischen Katholizismus, den man häufig als »Volkskatholizismus« bezeichnet, nicht ein Schock?

Antwort: Meine Methode bestand darin, so etwas wie eine leere Kassette zu sein, die sich bespielen läßt. Ich wollte das, was ist, möglichst unmittelbar erfahren und bemühte mich – wo wir schon von Husserl reden – um so etwas wie »epoché«, darum also, meine Vorurteile in Klammer zu setzen. Ich wußte, daß, wenn ich wirklich in das Land hineinwachsen wollte und dort ein Jahr verbringen würde, daß es dann keinen Sinn hat, nur passiver Beobachter von außen zu sein – das wäre im übrigen langweilig. Ich wollte in medias res sein. Ich denke, ich habe dieses Pilgern sehr tief erlebt; ich habe die Religiösität so genommen, wie sie ist, ohne sofort irgendwelche Vergleiche anzustellen.

Frage: Du hast einen nicht geringen Teil der denkwürdigen 16 Monate (der legalen Tätigkeit der Solidarność) in Polen miterlebt, dann das Kriegsrecht und doch hast Du – als Ausländer – die Probleme sicherlich auch aus einer gewissen Distanz betrachtet. Wie hast Du damals die sich lawinenartig entwickelnden Ereignisse wahrgenommen? Du hast doch recht aktiv an der KUL studiert, Ethik bei Prof. Styczeń, Neuere Geschichte bei Prof. Bartoszewski, und bist nach Krakau gefahren, um dort Philosophie bei Prof. Tischner an der Päpstlichen Akademie für Theologie zu hören …

Antwort: Aus sprachlichen Gründen konnte ich anfänglich nicht alles so genau verfolgen, obwohl man viel von dem, was geschah, auch trotz der Sprachbarriere spüren konnte. Gleichzeitig bewirkte der schnelle Lauf der Ereignisse, daß alle immer über das, was gerade geschah, redeten (heute ist es kaum anders). Dies führte zu folgender Situation: um die heutigen Ereignisse von 1980 verstehen zu können, kam ich nicht am Jahre 1976 (Arbeiterunruhen in Radom und Ursus) vorbei, dann ging ich weiter zurück zum Jahre 1970 (blutig niedergeschlagener Arbeiteraufstand an der Ostseeküste), weiter zum Jahre 1968 (Widerstand an den Universitäten gegen die kommunist. Herrschaft), 1956 (Posener Aufstand, Machtübernahme durch Gomulka, Beginn einer zweijährigen Tauwetterperiode), 1945 (Machtübernahme durch die Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg). Mein Studium der polnischen Nachkriegsgeschichte spielte sich weniger an der Universität ab, als vielmehr unter den vielen Menschen, die ich danach fragte und durch Besuche der Orte, in denen sich diese Geschichte ereignet hatte. Ich war bei den Denkmälern in Posen, Danzig, Gdingen. Ich habe diese Brücke in Gdingen gesehen, von der aus 1970 auf die Arbeiter geschossen wurde, die mir schon aus dem Film »Der Mensch aus Eisen« von Andrzej Wajda bekannt war. Dieser Film, wie auch der Film »Der Mensch aus Marmor«, hat mir ungeheur geholfen, diese Nachkriegsereignisse besser zu verstehen. Bei Prof. Bartoszewski hatten wir ein Seminar über den polnischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung (1939-45), und ich mußte ein Referat über die polnische Untergrundpresse in dieser Zeit halten. Dies alles war für mich ein gewisses Novum – denn ich war ein ziemlicher Ignorant in Bezug auf Polen. Ich wußte wohl etwas über die Okkupation, den Holocaust, über die brutalen Aktionen der Deutschen in dieser Zeit, doch wußte ich wenig über den polnischen Widerstand, den polnischen Untergrundstaat, den geistigen Widerstand … Und kurz danach kommt es plötzlich zum 13. Dezember 1981 (Tag der Verhängung des Kriegsrechtes über Polen), und all das, worüber ich ich meinem Referat geschrieben habe, was ich theoretisch behandelt habe, wird plötzlich in gewissem Sinne Wirklichkeit. Ich sehe, wie die Menschen an der Schreibmaschine sitzen, die Vorhänge zugezogen, und die verschiedensten Flugblätter schreiben, mit Pauspapier vervielfältigt. Es geht mir hier um die Einstellung der Gesellschaft zu dem, was geschah. Ich möchte hier keinesfalls die Kriegsrechtszeit mit der Grausamkeit und Brutalität der Okkupation vergleichen, es geht mir um die Haltung der Gesellschaft. Diese Ereignisse haben mir vor Augen geführt, daß man in Polen nicht isoliert einen geschichtlichen Augenblick betrachten kann, Daß alles seine Traditionen hat, daß es eine gewisse Kontinuität gibt, z.B., was die Einstellung und die Reaktion der Gesellschaft einem Okkupanten oder fremden bzw. nicht als eigenen empfundenen Machthabern gegenüber anbelangt. Und so enstand in mir der Wunsch und die Notwendigkeit, immer mehr verstehen zu wollen, sich immer weiter in die polnische Geschichte zu vertiefen. Ich will nicht sagen »Ich bin zum Polen geworden«, ich habe aber vielleicht das Niveau von Geschichtsbewußtsein erreicht, das ein »normaler« Pole hat, denn er hat das im Blut oder vom Elternhaus her…

(…)

Die Fragen stellte Rafał Wierzchoslawski

R. W. und G. Z.